Gesamte Rede von Wolf Schneider

Wolf Schneider, Hannover, 3.9.1995

Wer liest denn schon noch die Tageszeitung?

Ach, natürlich, fast jeder liest sie, und wenn es eine Boulevard- Zeitung ist, wird er sogar ziemlich viel von ihrem Textangebot zur Kenntnis nehmen. Wenn wir die Abonnements-Zeitungen betrachten, fehlt es auch nicht an Zuwendung: Die Todesanzeigen haben bekanntlich immer eine hervorragende Lesequote, und wer eine Wohnung, einen Job oder ein gebrauchtes Auto sucht, ist ebenfalls zu intensiver Lektüre aufgelegt.

Schwieriger wird es mit denjenigen Texten, die die Redakteure eigens für ihre Leser geschrieben haben. Da gibt es eine seriöse und zugleich erschütternde Untersuchung, die besagt: Der durchschnittliche Dreispalter auf der ersten Seite einer typischen deutschen Tageszeitung hat beim letzten Absatz die Lesequote Null. Keiner von 100 Versuchspersonen ist es eingefallen, den Dreispalter bis zum Schluß zu lesen.

Welches Mißverhältnis zwischen Aufwand und Ertrag! Welche Vergeudung an Zeit, Papier und Druckerschwärze! Und welche Chance wird hier verplempert, Leser zu informieren und sie ans Blatt zu binden! Daraus ergeben sich zwei Fragen: Woran liegt das - und kann die Zeitung sich das eigentlich noch leisten, mit denen so umzugehen, die für sie bezahlen sollen?

Es liegt vor allem an viererlei, daß die Leser nicht lesen wollen, und wenn, dann keinesfalls bis zum Schluß: an einer gewissen erhabenen Gleichgültigkeit vieler Journalisten gegenüber den Interessen ihrer Leser - an dem gestelzten Beamten-Deutsch allzu vieler Texte - an der verbreiteten Neigung, die 50. folgenlose Bosnien-Resolution der Europäischen Union oder die 100. Kinkel- Rede dieses Jahres immer noch für wichtig zu halten - und schließlich liegt es an der Weigerung, auf die Erfindung des Fernsehens zu reagieren (womit man sich, 43 Jahre nach der ersten "Tagesschau", kaum noch den Vorwurf der Übereilung zuziehen könnte).

Und leisten kann es sich die Tageszeitung natürlich nicht, so weiter zu machen wie bisher. Denn er gilt nun langsam nicht mehr, der schöne Satz, mit dem die meisten größeren Abonnements- Zeitungen jahrzehntelang ein ziemlich bequemes Leben führten: daß so ein Blatt mit journalistischen Mitteln gar nicht ruiniert werden kann. Die Auflage bewegte sich nicht dadurch, daß die Redaktion eine besonders gute oder eine besonders schlechte Zeitung machte, sondern allein durch verlegerische Entscheidungen: eine aggressive Vertriebspolitik betreiben oder nicht - kleinere Zeitungen dazukaufen oder nicht usw.

Auch radikale polititsche Umwälzungen konnten diesen gesegneten Blättern mit dem lokalen Anzeigenmonopol nichts anhaben: Die Auflage der Süddeutschen Zeitung beispielsweise war unabhängig von ihrer Qualität vom ersten Tag an dadurch gesichert, daß sie 1945 das Erbe der "Münchener Neuesten Nachrichten" antrat (wie sie im Untertitel auch bis heute heißt), und in Ostdeutschland dominieren ganz selbstverständlich die alten Zeitungen der SED.

Aus solcher Unangreifbarkeit folgte zwangsläufig eine Versuchung, der die eine Redaktion mehr, die andere weniger, aber jede mindestens ein bißchen erlag und immer noch erliegt: sich für die Wünsche und Bedürfnisse der Leser nicht gerade in Stücke zu reißen; es genügte ja vollständig, die Zeitung irgendwie vollzukinkeln.

Doch diese köstlichen Zeiten gehen ihrem Ende zu. Fast überall bröckeln die Auflagen, langsam, aber stetig, so daß sich absehen läßt, wann es vorbei sein wird mit der Bequemlichkeit. Vor allem aus drei Gründen machen die Auflagen den meisten Zeitungsverlagen Sorge:

  1. Eine gute Haushalts-Abdeckung gab es von jeher nur bei Mehr- Personen-Haushalten; der Single ist mit viel geringerer Wahrscheinlichkeit ein Abonnent. Also schlägt sich das dramatische Anwachsen der Single-Haushalte in sinkenden Auflagen nieder. Dafür kann die Zeitung nichts; aber etwas dagegen tun könnte sie doch.

  2. Früher pflegten die meisten Halbwüchsigen öfter mal in die Zeitung zu schauen, die ihre Eltern abonniert hatten, und so wurde einem künftigen Abonnement der Boden bereitet. Heute tun das die wenigsten: Das Fernsehen und der Computer interessieren die Siebzehnjährigen ungleich mehr, gelesen wird ungleich weniger - und eine Zeitung, wenn sie langweilig ist, zu allerletzt.

  3. Einst war die Tageszeitung der schnellste Übermittler von Neuigkeiten. Das ist vorbei - seit 1923 mit Hilfe des Radios, seit 1952 durch das Fernsehen; und seit mehr als einem Vierteljahrhundert haben wir den Zustand, daß fast jeder Deutsche fast jeden Abend im Fernsehen mindestens eine aktuelle Sendung sieht, noch dazu mit bunten Bildern. Und nun kommt zwölf Stunden später die Zeitung und teilt in schwärzlichen Buchstaben dasselbe noch einmal mit - idealerweise identisch: Erste Meldung "Tagesschau" gleich Aufmacher Tageszeitung; sieben Minuten dröhnende Bilder von der Amtseinführung des amerikanischen Präsidenten und am nächsten Morgen die Schlagzeile "Amerikas Präsident in sein Amt eingeführt".
Das ist trostlos, und fast unglaublich ist es auch. Dem Fernsehen bloß hinterherzulaufen, ist das Gegenteil einer vernünftigen Reaktion auf die drei großen Veränderungen: die zunehmenden Single-Haushalte, die nachlassende Lesefreudigkeit und den Siegeszug des Fernsehens eben.

Wer das Überleben der Tageszeitung sichern will, der muß die Antwort auf zwei Fragen finden: Erstens, wie kann ich mein Blatt so interessant machen, daß auch Siebzehnjährige darin lesen wollen und auch Singels es abonnieren? Und zweitens: Wie kann ich mich vom Fernsehen unterscheiden, da es mir in der Buntheit und der Aktualität doch unrettbar den Rang abläuft?

Auf diese zweite Frage haben die Sportredakteure schon vor mehr als dreißig Jahren die Antwort gefunden: Die Fakten resümieren sie nur in Tabellenform; ihre eigentliche Leistung besteht darin, über das Fußballspiel erzählerisch und analytisch zu berichten. Das ist es, was die Leute lesen wollen; auf diesem Feld sind die Süddeutsche Zeitung und die FAZ modern und leserfreundlich.

Wann werden die politischen Redakteure sich endlich dasselbe angewöhnen? Sie haben es sogar leichter als die Sportjournalisten: Denn die stehen unter einem Zwang, dem ihre Kollegen von der Nachrichtenredaktion sich leicht entziehen könnten - über das Schlagerspiel von gestern müssen sie groß berichten. Der politische Redakteur könnte sich die Freiheit nehmen, aus dem Aufmacher der "Tagesschau" einen Einspalter zu machen und stattdessen ein Thema hochzuziehen, das im Fernsehen überhaupt nicht vorkam.

Das mag verwegen klingen - aber die großen angelsächsischen Zeitungen und ebenso Le Monde machen es so seit Jahrzehnten, und in der International Herald Tribune können wir es bequem Tag für Tag verfolgen.

Man müßte nur den Mut haben, den herkömmlichen deutschen Aufmacher in Frage zu stellen. Damit hätte man zweierlei zugleich erreicht: die überfällige Distanzierung vom Fernsehen vorzunehmen - und möglicherweise auch Singles und Siebzehnjährige zu interessieren.

Mit der Gewohnheit zu brechen, daß man das Fernsehen getrost wiederholen dürfe, das ließe sich vielleicht durch folgende schlichte Überlegung erleichtern. Der klassische Zeitungsaufmacher lebt ja von einer Fiktion: der, daß es bei rund 300 Ausgaben pro Jahr ziemlich genau 300 Ereignisse gäbe, die es wert wären, prominent herausgestellt zu werden - keines mehr und keines weniger.

Auch ohne jede Prüfung wäre der Schluß erlaubt: So exakt nach den Bedürfnissen einer Zeitungsredaktion wird sich die Realität kaum richten. Fragt man indessen die Nachrichtenchefs der großen Zeitungen, so wird dieser Verdacht dramatisch erhärtet: An fast 200 der 300 Tage könnten sie auf einen Aufmacher verzichten, an rund 50 dieser 200 Tage täten sie das sogar liebend gern.

Trotzdem aufmachen zu müssen auch an diesen fast 200 Tagen - das begünstigt die Tendenz, Politikern ein Forum der Wichtigtuerei zu verschaffen, Ereignisse von mäßiger Bedeutung zu überreizen, Skandale zu melden, die nicht dringed so heißen müssen - und Leser zu langweilen.

Und was ließe sich dagegen tun? Soll denn die Zeitung allen Ernstes ohne Schlagzeile erscheinen oder wie 1895 mit Überschriften von der Art "Aus dem Auslande"? Natürlich nicht. Nur kann sie eben aus eigenem Entschluß viel attraktivere Aufmacher produzieren als die, die sich auf die Tageszusammenfassung der Nachrichtenagenturen stützen.

Und was sollte nun stehen auf Seite 1, zumal über dem Bruch? Das, was erstens das Fernsehen nicht hat, und das, was zweitens geeignet ist, potentielle Leser neugierig zu machen - eben weil sie's nicht aus dem Fernsehen kennen und weil es sie berührt oder interessiert. Und das ist vor allem dreierlei: die Analyse, die Reportage, das Lokale.

Das Hamburger Abendblatt praktiziert auf seiner Seite 1 seit Jahrzehnten die Mischung aus lokalen und überregionalen Informationen, im Durchschnitt je etwa zur Hälfte; und die Zeitung ist erfolgreich und gilt als gut gemacht. Da müßten die Redakteure der meisten Abo-Zeitungen nur den kleinen Professor, den geopolitischen Zensor niederringen, der ihnen im Hinterkopf herumspukt und ihnen einbläst, daß Hanoi grundsätzlich wichtiger oder seriöser oder für die erste Seite besser als Hannover wäre.

Den überregionalen Blättern steht dieses klassische und legitime Mittel, die Zeitung wieder interessant zu machen, nicht zur Verfügung; dafür zwei andere Elemente, denen auch die Regionalzeitungen ihr Herz zuwenden sollten: die Reportage und die Analyse.

Die Analyse ist die Königsform der Nachricht. Ja, die meisten Zeitungen drucken Analysen: Aber wenn, dann auf Seite 2 oder Seite 4 oder in der Form eines Leitartikels, also am falschen Platz: Denn im Leitartikel erwartet man Meinung, und Analyse heißt: Überblick über den Stand der Dinge, Zusammenbinden der verwirrenden Einzelnachrichten, Ausleuchten der Hintergründe - und das ist immer erhellender und meistens auch spannender als die 50. Bosnien-Resolution der EU.

Wieviele Leser können denn schon die Krajina-Serben von den bosnischen Serben und jenen Serben, die beides nicht sind, unterscheiden? Was würde bei einer Umfrage "Wie verhält sich Slawonien zu Slowenien" herauskommen? (Bekanntlich erlebte das relativ friedliche Slowenien einen Zusammenbruch des Fremdenverkehrs, als sich die schlechten Nachrichten aus dem kroatischen Slawonien häuften.)

Mit Tausenden solcher Informationsfetzen werden wir seit Jahren bombardiert - ihren Informationszweck erfüllen sie nicht. Wäre es nicht ungleich leserfreundlicher, das Durcheinander der täglichen Ereignisse allenfalls in Einspaltern zu registrieren und einmal in der Woche den analytischen Überblick zu geben - wer tut hier warum was, und wohin hat der Wahnsinn schon geführt?

Nicht nur die New York Times und Le Monde machen es so - auch die Neue Zürcher Zeitung. Da las man Aufmacherschlagzeilen wie: "Kollaps des Sowjet-Regimes - was nun?" oder "Rußlands Rückzug von den Weltgeschäften", ja sogar, als 1992 ein paar tausend Menschen vor dem Kreml noch einmal für die untergegangene Sowjetunion demonstrierten, viele mit Lichtern in der Hand: "Anrufung der verstorbenen UdSSR bei Kerzenlicht". Als Aufmacher!

Da hat die Redaktion sie produziert, die Chance aller Chancen: daß ein Mensch, der an einer herumliegenden oder ausgelegten Zeitung zunächst achtlos vorbeigehen will wie immer, plötzlich im Augenwinkel ein unvermutetes Signal auffängt, stutzt und den Wunsch verspürt "Das will ich lesen!"

Was die Neue Zürcher da praktiziert, ist in den großen angelsächsischen Zeitungen die Regel und kommt in Deutschland fast nie vor; gerade daß die Süddeutsche sich vor einem knappen Jahr entschlossen hat, öfter mal eine Analyse auf Seite 1 zu stellen - aber natürlich nicht als Aufmacher, dafür mit Linien eingerahmt, um das gleichsam Ungebührliche dieser Plazierung zu entschuldigen. Denn die meisten - und oft vorzüglichen - Analysen der Süddeutschen stehen natürlich auf Seite 4, und auch durch die Reportagen auf Seite 3 wird der Leser oft besser informiert als auf der ersten Seite; ja es kommt vor, daß die Seite 3 die Seite 1 dementiert.

Der krasseste Fall dieser Art ereignete sich 1985. Die Aufmacherschlagzeile der Süddeutschen Zeitung hieß "Strauß will Kohl weiter unterstützen". Zweierlei daran war kurios:

  1. "Weiter unterstützen" unterstellte, daß Strauß den Bundeskanzler bis dahin unterstützt hatte - ein offenkundiger Unsinn nach dem Wissensstand so ziemlich aller deutschen Journalisten.

  2. Hätte nun aber ausgerechnet die Nachrichtenredaktion der Süddeutschen das nicht gewußt, so hätte sie ihren Durchhänger immer noch erkennen können, wenn sie sich den Aufmacher von Seite 3 derselben Ausgabe angesehen hätte; da hieß die Unterzeile: "Für Strauß bleibt das Dilemma, Helmut Kohl unterstützen zu müssen, ihn aber eigentlich lieber stürzen zu sehen."
Was für ein Journalismus! Ich kenne die Wahrheit, auf Seite 3 stelle ich sie in klarer Analyse vor - aber erst, nachdem ich mir auf Seite 1 erlaubt habe, meine Leser an der Nase herumzuführen, indem ich das von Lügen getränkte Geplapper eines Politikers als Wahrheit verkaufte ("Strauß will...").

Das waren ein paar Beispiele für die Chancen der Analyse. Die andere erfolgsträchtige Reaktion auf das Fernsehen liegt in der Reportage. Was wollen Sie, höre ich fragen, die pflegen wir doch, schauen sie auf unsere Seite 3!

Aber das ist es ja eben: Bloß nicht auf die Seite 1 mit dem Besten, was wir haben! Eine Reportage-Seite im Inneren des Blattes ist eine gefährliche Einrichtung, weil sie die Routine fördert und die Zwangsvorstellung nährt, daß auf anderen Seiten keine Reportagen stehen dürften, schon gar nicht auf der Seite 1! Aber sie dürfen, und sie müssen, vor allem auf der Seite 1.

Das wäre unseriös, und es wäre unzumutbar für Schreiber wie für Leser? Den möglichen Widerstand der Schreiber, weil sie sich vielleicht kürzer fassen müßten, sollten wir ganz rasch vergessen: Journalisten haben Leser zu bedienen und nicht ihre eigene Eitelkeit. Auch könnten sie sich ja umgekehrt geschmeichelt fühlen, ihren kürzeren Text zum Ausgleich als Aufmacher gedruckt zu sehen.

Deutsche Leser würde man daran gewöhnen müssen, ehe der Erfolg sich einstellt, in der Tat. Wer seit Jahrzehnten weiß, daß er die erste Seite nur zu überfliegen braucht, weil sie ohnehin nur Sprechblasen, Agenturjargon und Fernseh-Wiederholungen enthält, dem würde eine Umgewöhnung zugemutet. Also sollte man beispielsweise ein Dreijahresprogramm aufstellen: im ersten Jahr hin und wieder eine Reportage unten auf der ersten Seite, im zweiten Jahr täglich (und manchmal auch schon über dem Bruch), im dritten Jahr oft über dem Bruch und manchmal sogar als Aufmacher.

Reportagen als Aufmacher? Ja - entweder, weil das Thema dramatisch ist (wie der Giftgasanschlag auf die U-Bahn von Tokio) oder weil der Text brillant ist (wie in der Süddeutschen so oft - auf Seite 3) oder weil es sich um einen der etwa fünfzig Tage eines Jahres handelt, an denen die Nachrichtenredaktion einen Aufmacher nur stöhnend gebären kann.

Und das sollte seriös sein? Aber natürlich! Le Monde zum Beispiel macht es so: Auf Seite 1 oben nebeneinander ein einspaltiger Kommentar, eine zweispaltige Analyse, eine zweispaltige Reportage (mit dem Satz beginnend: "Einige Kilometer südlich der zerstörten Stadt Vukovar gräbt sich eine schlammige Piste durch die Felder...") - und genau eine der sechs Spalten für eine herkömmliche Nachricht, für die Fernseh-Wiederholung also.

Nehmen wir den 26. August, heute vor acht Tagen. Die International Herald Tribune machte zwar nicht mit einer Reportage auf, hatte aber dafür drei Reportagen auf Seite 1. Die über dem Bruch, aus Israel, begann mit den Worten: "Einige der künftigen Offiziere trugen das Käppchen der gläubigen Juden, die meisten nicht. Ellbogen an Ellbogen saßen sie beim Unterricht, aber ihr Versuch, ihre Meinungsunterschiede höflich auszutragen, wollte nicht durchweg gelingen."

Ein Fünfspalter unter dem Bruch berichtete in Reportage-Form, wie Shanghai sich für den Wettlauf mit Hongkong rüstet, und ein Dreispalter begann mit den Worten: "Von Wahnsinnsgeld sprach zwar keiner der Computer-Händler, aber glücklich waren sie schon über den Betrieb, den Windows 95..." usw.

Das war die International Herald Tribune mit diesmal drei Reportagen auf der ersten Seite. Noch weiter geht das Wallstreet Journal, die größte Finanzzeitung und eine der größten Zeitungen der Welt: Bei ihm sind drei Reportagen auf der ersten Seite seit Jahrzehnten institutionalisiert! Vor acht Tagen begannen sie so:

"Es ist einer der Lieblingswitze von Bill Payne, dem Präsidenten des Olympischen Komitees von Atlanta: 'Ich habe die Welt überzeugt, daß wir in Atlanta im Sommer nur 25 Grad im Schatten haben. Ich habe nicht gesagt, zu welcher Tageszeit.'"

Die zweite Reportage auf Seite 1, eine Vorschau auf die Weltfrauenkonferenz in Peking, begann mit den Worten: "Die schon angekommenen Delegierten sprechen von Chaos. Unterkünfte gibt es nicht, ein Programm auch nicht. Kleine Gruppen von Frauen irren über den Flughafen auf der Suche nach jemandem, der sie begrüßt." Und über Windows 95 berichtete das Wallstreet Journal so: "Wir danken Gott oder Bill Gates, daß es vorüber ist." Auf Seite 1. Über dem Bruch.

Die können noch erzählen in Amerika, und sie trauen sich auch, es zu tun, und sie trauen sich sogar, solche Anschaulichkeit auf Seite 1 zu tragen - wo doch deutsche Leser abgespeist werden mit Sätzen wie: "Beim Kinkeln wurde der Bundesaußenminister auch gestern wieder ertappt."

Von den sechs Spalten des Wallstreet Journal sind also auf der ersten Seite drei den Reportagen gewidmet, zwei einer Nachrichten- Übersicht - und genau eine Spalte, niemals mehr, für das, was die Leser aus dem Fernsehen wissen. Die Entscheidung, was sie für wichtig hält, läßt die Redaktion sich von keinem Politiker, keinem Pressesprecher und keiner Nachrichtenagentur aus der Hand schlagen - mit dem zusätzlichen Vorzug, daß, anders als in Deutschland, die Versprechungen oder Verunglimpfungen einer Wahlrede niemals zu Aufmacher-Ehren gelangen können.

Reportage und Analyse auf Seite 1: Das bedeutet also erstens Abkehr von der bloßen Fernsehwiederholung, zweitens das Herausstellen der attraktivsten Elemente der Zeitung - und drittens den weitgehenden Verzicht auf die Sprechblasen der Politiker. Was Kinkel zu sagen hat oder Genscher einst zu sagen hatte (insofern sind die beiden innig verwandt, jedenfalls besonders typische Beispiele für das wichtigtuerische Bonner Wortgeklingel), das sollte eigentlich allenfalls mit einer Einzelgenehmigung durch den Chefredakteur überhaupt auf Seite 1 erscheinen dürfen; ja ich möchte behaupten, die Welt im allgemeinen und der deutsche Zeitungsleser im besonderen wären um nichts ärmer, wenn niemals ein Satz von Genscher oder Kinkel im Druck erschienen wäre.

Das Beste auf die Seite 1 - die politische Zungendrescherei viel kleiner oder überhaupt nicht mehr, weil sie immer langweilig, meist überflüssig und oft irreführend ist: Damit wären zwei der vier Gründe für das grassierende Desinteresse von Lesern ausgeräumt. Und nun zum dritten Grund: dem blutleeren, verschachtelten, verbiesterten Deutsch, in dem so große Teile unserer meisten Zeitungen geschrieben sind, die größten eingeschlossen. Das schlimme Deutsch kommt aus drei Quellen.

Die erste Quelle sind die Reden und Verlautbarungen von Politikern, Pressestellen und Verbänden, der Zunftjargon der Bilanzpressekonferenzen, das transatlantische Kauderwelsch von Marktforschern und Computer-Experten. Sie dreschen auf die Redaktionen ein wie die Niagara-Fälle, und zusammen machen sie gewiß zwei Drittel des Stoffes aus, den die Nachrichtenagenturen den Zeitungsredaktionen auf den Tisch schaufeln.

Diesem Anprall zu widerstehen, ist in der ständigen Zeitnot des Redakteurs nicht leicht; allzu oft aber berauschen sich die Journalisten ihrerseits an der Chance, sich mit dem Jargon zu identifizieren, also die Stationierung von Truppenverbänden als "Dislozierung" zu bezeichnen oder eine Erhöhung des Bierpreises als "Anhebung des Schanknutzens" unter die Leute zu bringen.

Die zweite der drei Quellen für das schlimme Deutsch, das sich in allen Abonnementszeitungen deutscher Sprache breitmacht, sind die Nachrichtenagenturen selber. Nicht nur übermitteln sie getreulich die Floskelsprache der Politiker, sondern sie putzen sie noch auf, und sie fügen ihr ihre eigenen scheußlichen Sprachklischees hinzu.

Daß ein Politiker etwas gesagt habe, kommt bei den Agenturen fast nie vor; ununterbrochen hat er vielmehr betont, erklärt, unterstrichen und bekräftigt. Und Vorwürfe bestreitet er nicht (wie es in unverkrampftem Deutsch nur heißen könnte), sondern er "weist sie zurück"; die Agenturen setzen ihn also auf einen Thron, von dem herab er seine Zurückweisungen vornimmt. De facto betreiben sie Öffentlichkeitsarbeit für den Politiker; daß sie unbezahlt und fahrlässig erfolgt, macht nichts besser.

Und dann die Verkrampfungen, die die Agenturen der Sprache zusätzlich aufzwingen! Da begann also eine "Tagesschau" 1994 mit dem Satz: "Bei einem Brand auf dem Kreuzfahrtschiff 'Achille Lauro' sind zwei Menschen ums Leben gekommen." Das war ein mehrstufiger Unsinn, eine völlige Zermanschung jeder natürlichen Mitteilungstechnik. Dreierlei war geschehen: Die "Achille Lauro" brannte; sämtliche tausend Passagiere und Besatzungsmitglieder mußten auf die Rettungsflöße; zwei Menschen kamen dabei um.

Die "Tagesschau" hätte also beginnen können: "Das Kreuzfahrtschiff 'Achille Lauro' steht in Flammen", oder die Zeitung vom nächsten Morgen: "Das Kreuzfahrtschiff 'Achille Lauro' ist gestern vollständig ausgebrannt." Und dann hätte es weitergehen müssen: "Sämtliche tausend Passagiere und Besatzungsmitglieder mußten sich auf Rettungsflöße begeben. Zwei Mitglieder der Besatzung kamen dabei um."

Der erste Satz von Agentur und Tagesschau dagegen ("Bei einem Brand sind zwei Menschen...") legte zunächst die Vermutung nahe, in der Kombüse des Kreuzfahrtschiffes habe es ein Feuerchen gegeben, und zwei Hilfsköche aus Malaysia seien dabei umgekommen. Das wäre ja tragisch genug - nur natürlich niemals die Aufmacher- Meldung einer Tagesschau.

Und wie haben der Redakteur der Agentur, der Redakteur der Tagesschau und der Sprecher der Tagesschau die Geschichte vermutlich zuhause erzählt? "Stell dir vor, die 'Achille Lauro' ist völlig ausgebrannt, und alle tausend ..." Sie hätten nur die allzu private Einleitung "Stell dir vor" zu streichen brauchen, um den Text dann genau so zu senden, wie sie ihn erzählt haben würden.

Wenn einer zu seinem Freund sagte: "Beim Tod meiner Schwiegermutter habe ich sehr weinen müssen", so würde der Freund selbstverständlich zurückfragen: "Moment mal, du willst sagen: Deine Schwiegermutter ist gestorben?" Kein normaler Mensch hat je eine aufregende Mitteilung mit "Beim" begonnen. Zu dem Satz "Die Welt ist untergegangen" gibt es keine Alternative - weder "Beim Weltuntergang kamen alle 5,7 Milliarden Menschen ums Leben" noch "Er werde auch den Weltuntergang aussitzen, unterstrich der Bundeskanzler."

Und was treibt eigentlich die Agentur zu diesem ritualisierten Unfug? Es ist die Zwangsvorstellung, man müsse im ersten Satz die Toten unterbringen oder wenigstens den Sachschaden, weil man sonst nicht genügend Interesse wecke. Aha. Der Satz: "Vor einer halben Stunde hat eine vollbesetzte Boeing 747 den Eiffelturm gestreift und ist auf den Champs Elys‚es in Flammen aufgegangen" - der wäre also langweilig, und ich würde gar nicht mehr wissen wollen, wieviele Menschen dabei umgekommen sind? Welche Narretei!

Aber Katastrophen müssen mit "Beim" beginnen, sonst sind sie keine, darauf sind die Agenturen eingeschworen. In diesem Beim- Bruch verdichtet sich ihre verhängnisvolle Neigung, alles natürliche und lebendige Erzählen zu versaubeuteln. Und die Nachrichtenredaktionen der Abonnementszeitungen sind in erschreckendem Grade den Agenturen hörig, und die Hörigkeit spart Zeit, weil man die Beim-Brüche nicht zu heilen braucht.

In einer Boulevardzeitung erscheint ein solcher Krampfsatz nie: Da weiß man noch, wie man erzählen muß, um Leser zu gewinnen; und insofern - ich sage "insofern" - ist die Bildzeitung der FAZ überlegen und der Hannoverschen Allgemeinen auch.

"Es wäre kein geringer Gewinn für die Wahrheit, wenn die besseren Schriftsteller sich herablassen würden, den schlechten die Kunstgriffe abzusehen, durch die sie sich eine Leserschaft erwerben, und zum Vorteil der guten Sache davon Gebrauch machten." Das war ein Zitat, es stammt von Friedrich Schiller, und in all unseren saturierten Blättern sollte das bei jedem Redakteur überm Schreibtisch hängen. Vielleicht zusätzlich das Schild, das Bert Brecht in einem seiner Arbeitszimmer einem ausgestopften Esel umhängte: "Auch ich muß es verstehen."

Und da stößt man also gerade in unseren nobelsten Zeitungsredaktionen auf Redakteure, die sich jede Kritik an ihren altgriechisch geschmückten, lateinisch verwinkelten Schachtelsätzen verbitten mit Redensarten wie "Unsere Leser verstehen das schon" oder gar: "Wenn nicht, dann sollen sie's eben zweimal lesen" - was erstens weltfremd und zweitens schamlos ist. Weltfremd, denn zweimal liest man nur Liebesbriefe oder den Drohbrief eines Rechtsanwalts; schamlos, denn es drückt jene Mischung aus Gleichgültigkeit und Hochmut gegenüber den Lesern aus, der ganz wesentlich zur Krise unserer Abonnementszeitungen beiträgt.

Das ist ja das Schlimme: Wenn die Politiker und wenn die Agenturen noch nicht genügend Sünden gegen ein verständliches, präzises, unverkrampftes Deutsch begangen haben, dann kommen unsere großen Leitartikler und erhabenen Feuilletonisten und produzieren solche Sünden selbst. Der zentrale Rat, mehr Analysen als nackte Nachrichten zu bringen, würde den Jargon der Politiker und der Agenturen automatisch zurückdrängen - aber was hilft das, wenn der Analytiker auf andere Weise genauso scheußlich schreibt wie diese?

Immer wieder meißeln die Redakteure auch und gerade unserer großen Zeitungen Sätze, von denen Leser sich mit Grausen wenden, und wenn das folgende Beispiel der FAZ entnommen ist, so heißt das nicht, daß sich nicht in jeder Ausgabe der Zeit, der Süddeutschen Zeitung, der Neuen Zürcher Zeitung eine ähnliche Sprachverhunzung fände.

Frankfurt, 30. Juni. "Ihren kühnen Versuch, in Sachsen-Anhalt eine Regierung der SPD mit dem Bündnis 90/Die Grünen durchzusetzen, die sich auf nicht mehr als 39 Prozent der Wähler stützen könnte und die sich einer hilfswilligen Einvernahme durch die PDS, unter welchem Kürzel heute die SED, die einstige Staatspartei der DDR auftritt, nicht erwehren könnte und dies sogar als Hilfe in der Not willkommen heißen müßte, wird von lebhaften Rufen 'Haltet den Dieb' begleitet."

Den Hauptsatz habe ich hier durch besondere Betonung hervorzuheben versucht, etwa so, als ob man ihn in der Zeitung fetten würde. Aber das ist nicht üblich, und so torkelt der Leser ohne Wegweiser in dem Satzlabyrinth umher. Der Hauptsatz also lautet: "Ihren kühnen Versuch ... wird von lebhaften Rufen 'haltet den Dieb' begleitet." (Ich habe mich nicht versprochen.) Leider hat nun der Schreiber diesen schlichten Hauptsatz schon nach drei Wörtern ("Ihren kühnen Versuch...") unterbrochen, um sich selbst ins Wort zu fallen mit einer kunstreich verschachtelten Nebensatzkonstruktion von 60 Wörtern.

Das bedeutet: Es ist offen, ob der Leser dieses Gestrüpp jemals durchdringt und es nicht vielmehr vorzieht, sich einem anderen Artikel oder dem Fernsehen zuzuwenden. Sollte er aber den Drahtverhau der 60 Wörter wirklich überwunden und die zweite Hälfte des Hauptsatzes ("...wird von lebhaften Rufen 'haltet den Dieb' begleitet") mit letzter Kraft erreicht haben, so ist ihm unterwegs die erste Hälfte des Hauptsatzes mit Sicherheit entfallen.

Wirklich mit Sicherheit? Ja! Denn auch der Autor kannte bei der zweiten Hälfte seines Hauptsatzes die erste nicht mehr - sonst hätte er nicht "Ihren kühnen Versuch ... wird begleitet" geschrieben; ja dem Schreiber ist entgangen, daß alle 71 Wörter dieses schönen Satzes keinen Aufschluß darüber geben, welche Personen oder Sachen mit "Ihren" gemeint sind. (Auch kein Satz davor, denn es war der Anfang des Artikels.)

Eine exakte Wissenschaft namens Verständlichkeitsforschung, im deutschen Sprachraum seit zwanzig Jahren etabliert, hätte dem Schreiber ein Rezept liefern können: Was im Satz zusammengehört (wie die Teile des Hauptsatzes oder Subjekt und Prädikat), darf nicht um 60, es darf nur 6 Wörter voneinander getrennt sein; das ist die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses bei durchschnittlichen Lesern mit durchschnittlicher, das heißt mäßiger Aufmerksamkeit. Wer meint, seine Leser hießen alle Thomas Mann oder könnten hilfsweise durch ein Sprachangebot wie das zitierte in Thomas Manns verwandelt werden, der irrt.

So also kann man zum Niedergang der Tageszeitung beitragen. Eine Sprache, wie sie allenfalls in Katasterämtern erträglich wäre - gute Texte, wenn vorhanden, dann nicht auf Seite 1, die ist für Kinkel da - das Fernsehen nochmal, mit Verspätung und in Schwarzweiß - diese drei Unsitten entspringen allesamt der vierten: nämlich daß der typische Abonnementszeitungs-Redakteur seine Leser nicht kennt, sie im Grunde nicht mag und sie folglich nicht umwirbt. Die Leser rächen sich endlich und hören über kurz oder lang auf, es zu sein.

Wenn aber die Tageszeitung als Institution gefährdet ist, dann gehen nicht nur Vermögen kaputt und Arbeitsplätze verloren; dann droht obendrein ein Verlust, den das demokratische Staatswesen sich nicht leisten kann. Indem sie die Wahlentscheidung in die Hand aller erwachsenen Bürger legt, baut die Demokratie darauf, daß die Wähler wenigstens einigermaßen den Hintergrund und das Für und Wider ihrer Entscheidung kennen. Ihnen zu diesem Informationsgrad zu verhelfen, ist nichts und niemand so geeignet wie eine Tageszeitung, wenn sie gut gemacht und für Leser geschrieben ist.

Daß die vielbesungene Datenautobahn daran irgendetwas ändern würde, ist schiere Illusion. Im Gegenteil: Die Milliarden Info- Fetzen, die über diese Autobahn rasen werden, können die Verworrenheit der irdischen Verhältnisse nur steigern. "Der Leser will nicht digitale Signale, sondern Geschichten, Analysen, 'Sinn'" schrieb die Süddeutsche Zeitung im Juli. Infolgedessen werde der Journalist wichtig sein wie noch nie in der Pressegeschichte - jener Journalist, der die Informationsflut kanalisiert, die Signale filtert, den Datenmüll entsorgt.

Max Franke, Chefredakteur der New York Times, sagte es so: "Die Zeitungen, die im nächsten Jahrhundert prosperieren wollen, brauchen Journalisten, die das Talent besitzen, eine endlose Vielfalt von Ereignissen zu bewerten und erklären." Recht hat er! Das ist der Dienst am Leser und am Bürger, zu dem die Tageszeitung aufgerufen ist. Wenn der Leser spürt, daß seine Zeitung diesen Dienst für ihn leistet, ihm zugewandt, mit Phantasie, mit Herz, frei von Routine, Hochmut und Krampf - dann wird er sie auch lesen wollen, seine Tageszeitung, und wenn er ein fernsehsüchtiger Single von 17 Jahren wäre.


Kommentare und Anregungen bitte an Karin Rahn.
Letzte Änderung am 04.09.95

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Andreas Walter

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